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Texte zu den Arbeiten

Wiederaufnahme verlorener Prozesse : Sor Juana Inés de la Cruz – Yo, la peor de todas. Zu Hermann Webers Sor-Juana-Zyklus anlässlich der Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung am 30. August 2015 im Bildungshaus Kloster Schöntal

Dass das Interesse des Künstlers Prof. Hermann Weber aus Berg eigentlich nicht der Historie gilt, auch wenn er, was er häufig tut, Gestalten der Geschichte beschwört und ins Bild setzt – Sor Juana, Echnaton, Nikolaus Betscher, Maulbertsch, ganz frisch auch Abt Knittel u.a. – muss betont werden. Zu einigen wird er selbst heute Mittag berichten. Aber wenn es nicht der Historie gilt, sein Interesse, worauf geht es denn dann? Meine Empfindung und Beobachtung dazu möchte ich auf folgenden Nenner bringen. Webers Interesse gilt der Wiederaufnahme verlorener Prozesse. So wie bei seiner Riesenserie zu Nikolaus Betscher, dem letzten Reichsprälaten von Rot an der Rot. Und so auch mit seinem Sor-Juana-Zyklus mit beinahe 50 Arbeiten, den wir heute hier zu sehen bekommen. Wiederaufnahme verlorener Prozesse also. Es sind dies aber stets Prozesse, bei denen er selbst, der Künstler, seine Existenz und seine Arbeit in Kunst, mit auf dem Spiel stehen. Also eine Auseinandersetzung, deren Tragweite von gegenwärtiger, vielleicht sogar überzeitlicher Relevanz ist.
Hinter der historischen Gestalt, ihrer Geschichte, ihrem Geschick und durch sie treten die Ambivalenzen künstlerischer Existenz und die grundlegenden, gestalterischen und denkerischen Probleme künstlerischen Arbeitens hervor in einem schmerzlichen, aber auch rauschhaften Prozess der Selbstvergewisserung. Arbeit in Kunst also als eine Art Selbstversuch, wenn man so will. Vielleicht ist beides zu nennen: Versuch und Versuchung als Ingredienzien einer selbst gewählten bildnerischen Aufgabenstellung: schmerzhaftes, resignations- und verzweiflungsbedrohtes Sich-Herantasten an unwiederbringlich Verlorenes, ein striktes, fast rabiates Eliminieren vermeintlichen Abgegoltenseins. Beschwörende Sicherung von Uneingelöstem auch. Letzteres, zumal in Performances, von beinahe rituellem Charakter. Und, vielleicht grundlegend dafür, die selbsterfahrungsgesättigte Entdeckung der Signifikanz des Devianten als eigener und fremder, als wahrer terra incognita für anthropologische Grundlagenforschung. „Nie bin ich in meinen Arbeiten so tief in meine innere Bilderwelt eingebrochen – zurück zu meinen ganz einfachen Anfängen, von Sehnsucht und Trauer und Verlust – dieser Zyklus ist das Persönlichste, was ich jemals gemacht habe“, notiert der Künstler dazu in seinem wunderbaren Sor Juana-Katalog Yo, la peor de todas von 2009, der eigentlich kein Katalog ist, sondern ein richtiges Künstlerbuch; es gibt ihn, glaube ich, noch und er verdient jede Empfehlung (YPD 108).
Yo, la peor de todas – ich, die Schlechteste von allen Es ist bezeichnend für den Umgang Webers mit seinem Thema, dass diese 16 von 40, auf den ersten Blick an Porträts gemahnenden, jeweils 81x40 cm großen, in Mischtechnik auf Papier ausgeführten Arbeiten bei genauerer Betrachtung in einem fast manisch anmutenden Ausdrucksringen beinahe strikt unter diesem Aspekt erscheinen. Da ist alles drin: Anleihen bei und Zitationen von historisch vertrauten Porträtformen ganz im Sinne postmoderner Appropriation Art. Freilich nicht nur Rück- , sondern zugleich Ausgriff, aber auch Eingriff, Angriff und Zugriff: Wiederaufnahme, Inbesitznahme, Korrektur, Zerstörung, Projektion: alles auf einmal. Zu einem seiner Sor-Juana-Bilder etwa setzt Hermann Weber folgende Erinnerung: „Etwas von einer großen Sehnsucht der Kindheit liegt in diesem Bild ... als Junge habe ich die Puppen meiner Schwester zerstört indem ich sie neu einkleidete ... möglichst prachtvoll und kitschig ...“ (YPD 80).Tatsächlich spielen Webers Sor-Juana-Bilder mit der Form, mit den Formen des Porträts, zitieren seine Requisiten, die sie zugleich retouchieren, verfremden durch Hinzufügungen, Unterlassungen, Mischungen: „Sor Juana ist eine Mestizin, Königin der Nacht, als Sonne, Sonne der Nacht, Nachtsonne ... die Schwarze Madonna, ein wahrhaftes Schmerzenskind“, notiert der Maler (YPD 94).
An anderer Stelle wird das Madonnenmotiv weitergeführt, wenn er Kindheitserinnerungen assoziiert: „die Maienkönigin, Blumenaltäre – meine Schwester stirbt – Maria – im weißen Kleid – Totenkleid – und überall die Mutter, Maria die große Frau, das Beschützende, das Gebärende, die reine Jungfrau, die Keusche, die Mutter ohne Sünde ... und wir alle Sünder“ (YPD 120). Motive und Motivationen im Gestalterischen, die dieses als einen Prozess der Selbsterforschung und der Selbstexplikation kenntlich machen. Zurück zur Folge der hier gezeigten Sor Juana-Porträts. Seltsam entgrenzte Erscheinungen, herausgenommen aus ihren definierten Kontexten, ortlos geworden und gerade dadurch irgendwie ubiquitär. Plötzlich ist alles da, in faszinierend-irritierender Simultaneität und Gleichwertigkeit: Keusche Nonne und lasciva puella; die verschleierten Jungfrauen christlicher und islamischer Provenienz; arabisch-maurische Silhouetten; afrikanisch, ozeanisch, fernöstlich Maskenhaftes; Erinnerungen an kreolische Herkunft mit Anklängen an Maja- und Inkaprinzessinnen, mumifizierten und solchen aus dem Anden-Eis. Die hochfahrenden und demütigen Posen der Gottesmütter und Frauenheiligen aus den Bildarsenalen christlicher Pietät samt ihrem Devotionalkitsch. Regentinnen und Damen von Welt des siglo d’oro, ausstaffiert mit dem ganzen pompösen Equipment Velázquez’scher Porträtkunst samt Infantinnen und Meninas, aber auch die an El Greco gemahnenden Porträt-Zerrbilder eines Francis Bacon gehen darin um.
Ebenso, wie die elegant posierenden, stolzierenden Taubengestalten andalusischer majas aus Goyas Caprichos oder der effeminiert-feminisierte Geck, als petimetra española, aus den Kostümfolgen eines Juan de la Cruz samt Fächern, Schleiern, Spitzen: Theatralik und pompe funèbre. Aber so gut wie kaum einmal ein unverstelltes Gesicht. Stattdessen vernähte, verbundene Münder – Kennmale von Unsäglichem, von Schweigen- von Verstummen-Müssen und Stummgemachtwerden. Niedergeschlagene Augen: aber die stehen nicht für Demut unterm Schleier. Weit eher sind sie Indikatoren von Sammlung und Apathie, von Rückzug und Selbstverschweigung, vollendeter Ausdruck ihrer Welt und zugleich deren Leugnung und Infragestellung. Indikatoren auch für nicht zu gewinnende Prozesse, für solche, die schon verloren sind, noch ehe sie begonnen haben. Sor Juanas Selbstvergleich mit dem hochgemuten Phaëthon, dem hochfahrenden, Gespanne lenkenden Göttersohn, Sinnbild ihrer Seele und ihres Typus – aber zum Schluss wird er zerschmettert vom Gott, fährt er, fährt ihm? der Karren in den Dreck und bleibt doch im Scheitern, in der Vernichtung verewigt. Auch daher und immer wieder, wie Weber zu einem seiner Bilder notiert: „Die tiefe Melancholie ... Aus dem Mund wächst ein Rosenast ... Mit den Dornen, dem Schmerz...“ (YPD 79). Und immer wieder Augen, aus denen Tränen fallen wie Perlen, geflochten zu Girlanden, Strängen, Rosenkränzen – glorreicher, aber vor allem schmerzensreicher Madonnenzier. Und immer wieder Schmuckrelikte aus besseren Tagen, geheftet an Verluste, Zumutungen, Enteignungen. Wie Erinnerungszitate an verlorenes Geschmeide die seltsamen Broschen, letzte Bastionen eines ungebeugten Trotzes.
Halskrausen und Prunkhauben; gekrönte Häupter auch, aber Kronen mit Kreuzen.
Kreuze überall; an, vor, unter den Mündern: Leidensmale, Stigmata, Bannmale, Schlingen um den Hals – was noch? Häufig puppig die Gesichter; masken- und larvenhaft – „das Thema Maske kommt ...“, notiert der Künstler einmal (YPD 96) – Kommen im Sinne von Erscheinen, von Zum-Vorschein-Kommen und von Sich- Aufdrängen. Masken also: wie geronnen zu Momentaufnahmen gravitätischer Posen.
Wunderschön-prächtig erscheinend und als Schönste von allen, wie im Marienlied. Hoffährtig und stolz, Haltung demonstrierend oder bewahrend, aber fast wie in nach innen sich kehrender, Kommunikation verweigernder, kontaktvereitelnder Hermetik. Allenthalben dann aber auch verstörte, fassungslose Kinderaugen; tief verletzte, fast wahnsinnig erschrockene Blicke in Abgründe von Zumutungen und Demütigungen, von Verlassenheit, von Einsamkeit, von Verrat und Verlust, wie auf den Gesichtern der Schmerzensmütter: gramverzerrt und doch zugleich in herber Minne.
Selbstinszenierung und Selbstverstümmelung. Selbstversagung als Selbstbehauptung – ‚grad mit Fleiß’, wenn man so will. Dann wieder Blicke von seltsam entrückter, fast visionärer Weitsicht; Jenseitsblicke vielleicht. Und schließlich auch diese beunruhigend fremdartig bleibenden, tief dunklen Augen, in sich gekehrt in abweisender Schwärze, doch mit heimlicher Glut; fast lauernd manchmal auch und wie verschlagen. Augen, aus denen Blicke fahren wie Messer; Pfeile, abgeschossen von wo und auf wen? Und um die pompös oder schlicht ausstaffierten, tapezierten, putzmacherisch spitzendrapierten, irgendwie geschlechtsneutral und fast körperlos bleibenden, scherenschnittartigen Büsten lagern sich, wie Leichenbinden oder Reliquienstaffage, immer wieder merkwürdige Zutaten von Schmuck und Stoff, nicht Ent- sondern Einbindungen, Kokons, textile Gespinste, unter denen Gerippe und Totenschädel durchscheinen. Wer dächte nicht unwillkürlich an die Reliquienschreine und Glassarginszenierungen in den Kirchen und Klöstern des oberschwäbischen Barock angesichts dieser durch die pergamentierten, punktierten, punzierten Hautpartien irritierend fein konservierten, mumienhaft blicklosen, entrückt-rätselhaft bleibenden Schemen. „Der Tod ist die Schwester, ist die Geliebte von Sor Juana“, heißt es in einem Notat des Künstlers, und weiter: „Allergrößte Hingabe, Vereinigung mit dem Tod, der Tod verschleiert mitten im Leben“ (YPD 103).Und noch einmal zwei solcher Notate des Malers. Das erste, wiederum zu einem bestimmten Bild und doch übergreifend, weil aufs Ende gerichtet, lautet: „Diese Arbeit ist Zerfall, Ende, Resignation. So, wie eine Blume verblüht, – in schwarz / weiß auf Rosenreliefpapier und Orange leuchtend und blutrot ... Krankheit, Seuche, Tod und große Not ...“(YPD 86). Aber, als könnte, als dürfte es dabei sein Bewenden nicht haben, hier noch ein zweites Blitzlicht; es lautet: „Vielleicht ist das der Tod – man ist, und man spürt keine Zeit, nur noch Sein, Existenz, und alles ist, ist einfach, kein Vorher, kein Nachher...“(YPD 116, Hervorh. M.K.). Zwar ist es schwerlich Sache des Künstlers, auf die Frage nach dem Tod philosophisch-theologisch bündige Antworten zu geben – wenn es denn solche überhaupt gibt. Aber es scheint, als wäre es möglich, im Angesicht des Todes, der nicht zu leugnen ist und nicht wegeskamottierbar, einfach nicht aufzuhören. Nicht mit dem Bilden und nicht mit dem Sprechen. Was dann entsteht – und vielleicht bleibt – ist eine andere Vision des Lebens, die kein Verstummen gebietet, sondern so etwas wie das Einsprechen auf eine Stelle:
vielleicht die Gottesstelle. Dann bliebe, vom Sprachmodus her betrachtet, so etwas wie das Gebet, gleichsam ein unaufhörliches Murmeln, das auch stumm bleiben kann, wortlos, versunken. Und für das Bild? Vielleicht tatsächlich so etwas wie die Suche nach dem Gesicht. Auch diese bleibt infinitesimal, hat den Charakter der Suche, der Andacht und des Gedenkens.


Zitate aus Katalog
1) Hermann Weber. Ich bin die ich bin – Sor Juana, 10-17
Sor Juana Inés de la Cruz ist der Name einer großen Frau, Dichterin und Nonne, von ihren Zeitgenossen im Spätbarock als ‚Zehnte Muse von Mexiko’ und ‚Phönix Amerikas’ bestaunt und bewundert. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Juana Inés de Asbaje i Ramirez de Cantilliana. (10)

1990 kam ein Film in die Kinos ... von der argentinischen Regisseurin Maria Luisa Bemberg mit dem Titel: Yo, la peor de todas / Ich, die Schlechteste von allen’. So lautet auch der Titel meiner Arbeiten zu Sor Juana. Beinahe 50 Arbeiten, fiktive Porträts, alles Gesichter ein und derselben Person, die, hintereinander oder übereinander gelegt oder alle ineinander verschmolzen, Annäherungen an die Vielschichtigkeit und Komplexität dieser faszinierenden und rätselhaften Frau darstellen. Ein lebendiges Bild, das aus der Vergangenheit emporsteigt wie aus den Tiefen des Wassers, um dann wieder zu versinken. Nur ein Augenblick, ein kurzer Moment, ein Aufleuchten, Aufblitzen aus dem Dunkel der Nacht des Vergessens. Wiedergeboren nicht aus Schaum, sondern aus Buchstaben, aus Sprache, Wörter aneinander gereiht, farbig, leidenschaftlich, klanghaft sinnlich und in der Originalsprache fast betörend. Und selbst in der deutschen Übersetzung noch ein sprühendes glühendes und zeitloses Wunderwerk menschlicher Sprache. (10)

Einem Traum gleich erscheint ihr Leben selbst. Geboren am 12. November 1648. Uneheliches Kind einer Kreolin, lernte mit drei Jahren Lesen und Schreiben und zugleich einen für die dama-/lige Zeit ‚unweiblichen’ Wissensdrang. Sie schrieb mit acht Jahren ihre ersten Dichtungen und kam mit dreizehn Jahren als Hofdame an den Hof des Vizekönigs von Mexiko, wo ihre Schönheit und ihr Wissen sofort Aufsehen erregten – und den Neid der anderen Hofdamen. Bewunderung und Neid, Anerkennung und Missgunst, Faszination und Verachtung – zwischen diesen Polen bewegte sie sich zeitlebens, wie auf einer über den Abgrund gespannten Schnur. (10/11)

Beeindruckt von ihrer Bildung, vor allem, wird sie auf Veranlassung des Vizekönigs einer wissenschaftlichen Prüfung vor vierzig Männern aller Fakultäten der Universität von Mexiko unterzogen. Eine stundenlange Prozedur für die Neunzehnjährige, die sie mit Bravour besteht und die ihr gefallen hat. Allein, als Frau, als Autodidaktin, tritt sie dieser männlichen Mauer aus Bildung und Arroganz gegenüber. (11)

...die Männer interessieren sie auch nicht. Die Ehe schon gar nicht. (11)

(Ihre Bibliothk) vierhundert Bände ...Die Philosophen des Abendlandes und Bücher über Astronomie, Musik, Naturwissenschaften und Ägyptische Mythologie sind darin zu finden. Ihr Interesse gilt vor allem Athanasius Kircher (1601-1680), einem universell gebildeten, als Forscher und Wissenschaftler am Vatikan tätigen Jesuiten,(11)

Sor Juana führt nicht das asketische Leben einer Klosterfrau (bei ihr geht es zu) wie in einem literarischen Salon. Sie ist berühmt, und das nicht nur in Neuspanien, ...Das Klosterleben bedeutet für Sor Juana also keine Selbstaufgabe und keinen großen Verzicht, sondern erlaubt ihr im Rahmen der Möglichkeiten ein freies Leben.(11)

Eines der konstanten Themen ihrer Poesie ist die Liebe. Es ist nicht die Liebe zu Gott (...) Die himmlische Liebe bedient sich des irdischen Vokabulars, der Sprache des Körpers, der sinnlichen Lust und der Dialektik der Leidenschaft. Auch Sor Juana nutzte dieses Vokabular für ihre Poesie ... Aber ihre Liebesgedichte atmen mehr, als nur die Metaphern der Sinnlichkeit. Eine heikle Angelegenheit. Sind ihre Amouren erlebt und gelebt? Oder sind sie Trugbilder oder Schatten der Seele? Oder intellektuelle Herzensergüsse und erotische Hirngespinste ei9ner sich kasteienden Nonne? ... Buchstaben-Sex? ... Jedenfalls tauchen beim Lesen die Bilder der Lust und des Schmerzes auf, Hingabe, Verlust und Verblühen sind fühlbar.(12)

Einerseits spricht sie ganz offen, man erschrickt fast ob ihrer Offenheit und der Intimität ihrer Bekenntnisse. Gleichzeitig zieht sie sich aber auch wieder zurück und entzieht sich, wie ein Phantom, sich selbst und dem Anderen. Mit erstaunlicher Raffinesse, schlau und ausgeklügelt, spielt sie dieses Spiel. Permanente Selbst- Entblößungen, Geständnisse und Aufseufzer auf der einen Seite, aber gleichzeitig verhüllt sie sich, umgibt sich mit einem Kokon, bedeckt sich mit einem Kleid, gewoben aus reinen, geschlechtslosen, neutralen Buchstaben.(12)

Weder mein Frau- noch mein Fernsein Kann mich hindern, dich zu lieben; Denn du weißt: Die Seelen kennen Nicht Distanz und nicht Geschlecht ... schreibt sie an ... die Vizekönigin (12)

Ihr Interesse am anderen Geschlecht geht praktisch gegen null.(13)

Die Klostermauern bieten also Schutz vor der Verführung durch das andere Geschlecht, Schutz vor der Sünde.(14)

Die meisten großen Religionen ... haben bis heute ihre Probleme ...mit der Sexualität überhaupt.(14)

Lust ist Sünde und die Sünde ist nackt. Und die Sünde ist eine Frau.(14)

Die blaue Stunde

Ungefähr eine Stunde von Paris entfernt liegt das Schloss Chantilly mitten in einem großen Park, das in abgedunkelten Räumen einen der großen Schätze der abendländischen Malerei beherbergt: Le Livre d‘Heure d‘Etienne Chevalier von Jean Fouquet. Die einzelnen Blätter des ehemaligen Stundenbuches sind einzeln gerahmt und an den Wänden zu bestaunen heute. Man geht von Blatt zu Blatt, als ob man durch ein großes lebendiges Bilderbuch ginge und taucht immer mehr ein in die farbige Welt des Mittelalters.
Fouquet hat die biblischen Geschichten aus den staubigen Wüstenlandschaften des Heiligen Landes in die saftig grünen Wiesen der Île de France rund um Paris gesetzt. Das biblische Geschehen ist keine ferne Vergangenheit, sondern höchst lebendig und aktuell. Andere Künstler haben das in der Zeit auch getan, aber bei den allermeisten wirkt das eher bemüht und nicht wirklich überzeugend. Es geht ein Zauber von diesen Miniaturen aus, dem man sich nicht entziehen kann. Das liegt in erster Linie an der Präzision der dargestellten Figuren, der Gesichter, der Kleidung - nichts ist unwichtig bei Fouquet – die Schuhe ebenso wie ein Hut, eine Rüstung, ein Waschzuber, ein Stein, eine Flamme oder ein Helm, die Knöpfe an der Jacke, Bärte und Haare oder ein rotes Band an der Hose. Auffällig die Sprache der Hände, die Gestik und Mimik der einzelnen Gesichter. Auch in den Architekturdarstellungen ist alles von einer großen Detailgenauigkeit. Die spitzen Dächer der Häuser, Fenster und Türen geschlossen oder geöffnet und darin manchmal Menschen, die heraus oder hinein schauen. Die Fußböden aus poliertem Marmor, auch Wände. Und Säulen aus Lapislazuli oder mit Blattgold überzogen. Der Tempel Jerusalems steht mitten in Paris, an Notre-Dame daneben wird noch gebaut. Auch Sainte-Chapelle ist gleich um die Ecke. Oder ein Campnile aus der Toskana. Bäume sind als Alleen an einer Landstraße neben einem Schloss im Loire Tal sichtbar. Daneben sitzt Hiob in einem braunen Erdloch. Die Silhouetten der Berge leuchten in blauer Ferne zart unter einem blauen unendlichen Himmel.
Immer wieder war ich dort während meines Stipendienaufenthaltes in der Cité des Arts in Paris. An einem heißen Sommersonntagnachmittag in der Kühle des Schlosses und im Schatten der Bäume im Park. An einem regnerischen kalten Novembertag. Oder im Winter, wenn alles verschneit und wie erstarrt, mit dem Gefühl, dass die Farben der Bilder dadurch noch intensiver wirken und lange in einem nachklingen. Fährt man durch die verschneite, fast farblose Landschaft und betritt die Räume mit den kleinen Kostbarkeiten an den Wänden, befällt einen das gleiche Staunen, das einen jedes Jahr überkommt nach einem langen Winter, wenn in den ersten Frühlingstagen Narzissen und Hyazinthen und Veilchen und Krokusse, Schlüsselblumen und Löwenzahn in ihren fast unnatürlichen und knalligen Farben erblühen. Verlässt man dann das Schloss, die Räume mit den Traumbildern aus längst vergangener Zeit, ist es, als ob man aus einem Farb- in einen Schwarzweiß- Film fällt. Als ob das Leben, die ganze Schönheit der Natur und der Phantasie sich ganz nach innen stülpt und wieder verschließt. Wie eine Knospe, der Film rückwärts gespult ...
Aber etwas ist mir damals nicht aufgefallen, bei noch so genauem Hinsehen. Das lag aber weniger an den Bildern oder dem dämmrigen Licht in den Räumen, sondern an dem, was ich damals nicht sehen konnte, weil es nicht in meinem Bewusstsein war. Es gibt fast keine Tiere dort. Nur der Adler des Hl. Johannes auf Patmos und die Taube, der Hl. Geist. Also eher Attribute ... und Pferde. Nutztiere, zum reiten und im Kampf. Die Tiere, unsere Mitgeschöpfe, haben auf den kostbaren „heiligen“ Blättern keinen Platz und keinen Raum, sind nicht existent und nicht wert, abgebildet zu werden. Sie sind kategorisch von Anfang an aus der christlichen Heilslehre ausgeschlossen. Das frühe Christentum hat ein Weltbild geschaffen und begünstigt, innerhalb dessen der Mensch durch die Unsterblichkeit seiner Seele von allen anderen Geschöpfen sich abhebt und in besonderem Maße herausragt. Wohin gegen die „unvernünftigen Tiere“ nichts als vergängliche Wesen seien und seelenlos, Sub specie aeternitatis ... (Bis heute wird den Tieren von der Mehrzahl der Menschen auch ein Gefühl abgesprochen. Wer einmal Tiere bei der Brutpflege genau beobachtet hat, weiß intuitiv, was die Naturwissenschaft bestätigt: Tiere haben ein Empfinden.)
Diese Sicht der christlichen Theologie im Erbe der Anthropozentrik des biblischen Welt-und Menschenbildes zeigt sich nach über 2000 Jahren als eine Einbahnstraße im Denken und in der Wahrnehmung, eine gefährliche Engstirnigkeit. Sie zerriss auf diese Weise ideologisch das gemeinsame Band des ganzen Lebens, das Tiere und die Welt der Pflanzen und den Menschen miteinander verbindet. Dadurch, dass sie den Menschen über alles stellt, isoliert sie ihn. Das christliche Abendland kennt daher auch keine Ethik, die das Leid der Tiere und der Menschen gleichstellt und als gleichwertig betrachtet. So können Tiere benutzt und gequält geschlagen, getötet und gegessen werden. Ohne Respekt vor dem Leben der anderen Kreatur, und, ohne sich schuldig zu machen. Schuldig macht man sich in erster Linie mit dem, was man als tierisch an sich selbst erlebt: den Körper, die Geilheit und die Fortpflanzung. Deshalb ist Maria die Reine und der Hl. Geist eine unschuldige weiße Taube und der Hl. Joseph ein alter zeugungsunfähiger Mann.
Die Zusammenhänge von der radikalen Ausbeutung der Naturressourcen der Erde, der Massentierhaltung, der Tierversuche, der Ausrottung vieler Tierarten und der gleichzeitig bedrohlichen Überbevölkerung des Blauen Planten durch den „Homo Sapiens“ und der ethisch moralischen Zementierung religiöser Grundsätze und Wertvorstellungen durch die christliche Religion liegen auf der Hand. So zeigen die Miniaturen des Jean Fouquet auch eines: die Natur ist allein Requisite auf der Bühne eines Theatrum Sacrum, der Weg der Erlösung in der Nachfolge Christi für die sündigen Menschenkinder auf dem Weg ins Paradies mit Engeln und Erzengeln, mit allen Aposteln und Heiligen ins unendliche Blau der Ewigkeit, im Zentrum Gottvater und Gottsohn und eine weiße Taube. Die aber nicht frisst und deshalb auch nicht sch...
Im Kampf gegen den „heidnischen Mythos“, der mit Hilfe symbolischer Bilder den Menschen in die ihn umgebende Natur eingebunden hat, hat das frühe Christentum einen entscheidenden und fatalen Fehler gemacht: Es hat nicht nur die heidnischen Bildwerke und damit auch eine andere Weltsichten zerstört, sondern sich in unerträglicher Arroganz ein Gottesbild nach dem eigenen Bild gemacht und über alles gestellt. Um alles zu beherrschen!
Ein großer Irrtum, den wir erst langsam, wenn wir es wirklich wollen, begreifen. Der Preis ist hoch, der „Garten Gottes“ wird in seiner unendlichen Vielfalt und Schönheit von der Gier und der Engstirnigkeit menschlichen Handelns zerstört. Die „Heiligen Bücher“ müssen neu oder umgeschrieben und ergänzt werden, wenn wir hier überleben wollen. Hermann Weber, Berg 2013

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„ Sor Juana Ines de la Cruz oder Die Fallstricke des Glaubens“.

Sor Juana Ines de la Cruz ist der Name einer großen Frau, Dichterin und Nonne, von ihren Zeitgenossen im Spätbarock als „Zehnte Muse von Mexiko“ und „Phönix Amerikas“ bestaunt und bewundert. Mit bürgerlichem Namen Juana Inés de Asbaje i Ramirez de Cantillana.

„ Sor Juana Inés de la Cruz oder Die Fallstricke des Glaubens“ ist der Titel des großen Essays, den ihr Landsmann und Literaturnobelpreisträger Octavio Paz über sie schrieb und Dank dessen sie nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa keine „ganz große Unbekannte“ mehr ist. Der Essay von einigen hundert Seiten ist eine fasziniernde Recherche, eine literarisch-archäolgische Ausgrabung, über das Leben einer bis dahin fast Vergessenen und ihrer Zeit, die Octavio Paz darin wieder zum Leben erweckt: „ Sie war der vollendte und volkommene Ausdruck ihrer Welt und zugleich deren Leugnung. Sie stellte das Ideal ihrer Zeit dar: ein Monstrum, ein einzigartiger Fall, ein Schaustück. Sie allein war eine Gattung für sich: Nonne, Dichterin, Musikerin, Malerin, wandertheologin, verkörperte Metapher, lebendes Denkbild, Schönheit im Habit,, Syllogismus in Röcken, ein doppelt furchteinflößendes Geschöpf: ihre Stimme verzaubert, ihre Argumente töten. Aber all dies ist nur ein Schein, Darstellung. Die wahre Sor Juana ist allein, von ihren Gedanken zernagt. Zernagt und getröstet.........“

1990 kam ein Film in die Kinos, natürlich nicht in die großen Kinos, von der argentinischen Regisseurin Maria Bemberg mit dem Titel: „ Yo, la peor de todas“, „Ich, die Schlechteste von allen.“
So lautet auch der Titel meiner Arbeiten. Beinahe 50 Arbeiten, fiktive Porträts, alles Gesichter ein und derselben Person, die hintereinander oder übereinander gelegt oder alle ineinander verschmolzen Annäherungen an die Vielschichtigkeit und Komplexitizät dieser fasziniernden und rätselhaften Frau darstellen, ein lebendiges Bild, das aus der Vergangenheit wie aus den Tiefen des Wassers emporsteigt, um wieder zu versinken. Nur ein Augenblick, ein kurzer Moment, ein Aufleuchten, Aufblitzen aus dem Dunkel der Nacht des Vergessens. Wiedergeboren nicht aus Schaum, sondern aus Buchstaben, aus Sprache, Wörter aneinander gereiht, farbig, leidenschaftlich, klanghaft, sinnlich und betörend fast, in der Originalsprache. Und selbst in der deutschen Übersetzung noch ein sprühendes glühendes und zeitloses Wunderwerk menschlicher Sprache. Die Gedichte und vor allem „Der erste Traum“, ein „einzigartiges Denkmal für den Geist und sein Sehnen nach Erkenntnis. Sor Juana erzählt uns in diesem Poem,“ resümiert Octavio Paz, „ die Reise der Seele durch die Himmelssphären, ihr Geblendetsein und ihre Versuche, ihre Vision in eine Idee zu verwandeln: Die Vernunft sieht, und der Verstand begreift nicht, was er sieht. Der Traum, von dem uns das Gedicht berichtet, ist eine Allegorie des Erkenntnisaktes. Er beschreibt die Vision, die schwierigkeiten des Begreifens, sein schwanken und sein Wagen und seinen heroischen Mut. Sie will erkennen, obwohl sie von vorneherein weiß, daß sie mit gewißheit scheitern wird. Das Modell der Seele- der Typus, unterstreicht Sor Juana- ist Phaeton, der Jüngling, den Jupiter zerschmettert, der aber seinen Namen im Absturz verewigt.......“ ( Octavio Paz)
Einem Traum gleich, ihr Leben selbst. Geboren am 12. November 1648. Uneheliches Kind einer Kreolin, lernte mit drei Jahren Lesen und Schreiben und zeigte einen für die damalige Zeit „unweiblichen„ Wissensdrang.Sie schrieb mit acht Jahren ihre ersten Dichtungen und kam mit 13 Jahren als Hofdame an den Hof der Vizekönigin von Mexiko und erregte dort sofort Aufsehen durch ihre Schönheit und ihr Wissen. Und den Neid der anderen Hofdamen. Bewunderung und Neid, Anerkennung und Mißgunst, Faszination und Verachtung....zwischen diesen Polen wird sie die Jahre ihres Lebens gehen, wie auf einer über den Abgrund gespannten Schnur.

Um zu studieren, tritt sie im August 1667 ins Karmeliter- Kloster Santa Teresa ein. Drei Monate später ist sie wieder am Hof, das Klosterleben behagt ihr nicht. Zu streng. Beeindruckt von ihrer Bildung, vor allem, wird sie auf Veranlassung des Vizekönigs einer wissenschaftlichen Prüfung vor vierzig Männern aller Fakultäten der Universität von Mexiko unterzogen, eine stundenlange Prozedur für die neunzehnjährige, die sie mit Bravour besteht und die ihr sicher gefallen hat. Allein, als Frau, als Autodidaktin, tritt sie dieser männlichen Mauer aus Bildung und Arroganz gegenüber.
Ein Jahr später tritt sie dem liberalen Hieronymiten-Orden bei und legt ihre Gelübde ab und nannte sich von nun an „Sor Juana Inés de la Cruz“. Es gibt für sie keine andere Möglichkeit. Sie will studieren, sich Wissen aneignen, ungestört. Nicht das mehr oder weniger oberflächliche Leben am Hof, die Feste und die Verpflichtungen als Hofdame und die Männer intressieren sie auch nicht. Und die Ehe schon gar nicht.
Sie bleibt in der Gunst des Vizekönigs, der sie fördert und unterstützt. Und vor allem in der Gunst der Vizekönigin, die ihr mehr als nur Bewunderung entgegenbringt. Sor Juana kann so das Leben führen, das sie sich vorstellt: unabhängig und nur ihren eigenen Interessen nachgehen. Ihre Privatbibliothek umfasst an die vierhundert Bände und damit eine der umfangreichsten der Zeit: die Philosphie des Abendlandes und Bücher über Astronomie und Musik, Naturwissenschaften und der ägyptischen Mythologie. Ihr Interesse gilt vor allem Athanasius Kircher, universell gebildet und als Forscher oder Wissenschaftler am Vatikan tätig und Jesuit, der u. a. als einer der ersten versucht, die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern, anhand des Obelisken auf dem Petersplatz in Rom.

Sor Juana führt nicht das asketische Leben einer Klosterfrau, sie hat mehrere Dienerinnen, studiert, schreibt, vor allem auch Auftragsarbeiten; empfängt Besuche, der Vize- Königin, hohen geistlichen Würdenträgern, andere Dichter und Gelehrte und Adel und Consorten bei heißer Schokolade und köstlichem Gebäck. Natürlich werden dabei auch ihre neuesten Gedichte rezitiert, oder andere, es wird gelesen und gesungen, diskutiert, sozusagen ein literarisches Quartett oder besser noch, ein literarischer Salon. Sie ist berühmt und nicht nur in „Neuspanien“. Ihre Gedichte werden veröffentlicht und auch in Spanien und Portugal gelesen. „Sie verfaßt Komödien,volksliedhafte Texte zur liturgischen Feier von Kirchenfesten, Huldigungsspiele, Abhandlungen über Musik, moralische Reflexionen. Zwischen dem Palast der Vizekönige und dem Kloster gibt es ein reges Hin und Her von Reimen und Geschenken, Glückwünschen, Scherzgedichten und Bittschriften. Vrwöhntes Wudermädchen, Zehnte Muse. Sor Juana schrieb für die Kirche und für die großen religösen Feste. Unter ihren Villancicos gibt es einige, die kleine Meisterwerke sind“. Sie wurden schon zu ihren Lebzeiten und darüber hinaus noch die nächsten Jahrhunderte von den größten Komponisten der spanisch sprechenden Welt vertont. Ihre eigenen Vertonungen sind leider verloren gegangen wie auch ihre musik-theoretischen Schriften. Und sie leitet auch die Finanzgeschäfte des Klosters.

Eines der konstanten Themen ihrer Poesie ist...die Liebe. Es ist nicht die Liebe zu Gott, nicht die sich verzehrende, brennende Hingabe an Gott wie bei dem heiligen Augustinus, der auf den Darstellungen des Barock immer ein brennendes Herz, und nicht nur er, viele andere Heilige brennen auch, in seinen Händen hält. Oder die Ekstase der heilgen Theresa, wie Bernini sie so faszinierend und schön und ergreifend und realistisch dargestellt hat. Und erotisch verzückt auf einer Wolke schwebend und ihr gegenüber Amor, der den Pfeil der Liebe in den Händen hält, der ihr Herz durchbohrt....hat. Grenzland. Die irdische Liebe und die göttliche sind hier ineinander verschmolzen und aus Fleisch und Blut, obwohl aus kaltem blendend weißen Marmor, atmet alles körperlich sinnlich, fast lasziv. Das ist 100 Jahre früher in der Kunst und auch hundert Jahre später nicht mehr möglich, das geht nur im Hochbarock und nur in den katholischen Ländern. Die himmlische Liebe bedient sich des irdischen Vokabulars, der Sprache des Körpers, der sinnlichen Lust und der Dialektik der Leidenschaft. Auch Sor Juana. Das ist für uns heute erstaunlich und auch etwas befremdend, aber in der Zeit nichs außergewöhnliches. Die Grenzen sind fließend. Aber ihre Liebesgedichte atmen mehr, als nur die Metaphern der Sinnlichkeit. Eine heikle Angelegenheit. Sind ihre „Amouren“ erlebt, und gelebt ? Oder sind sie Trugbilder oder Schatten der Seele?

Oder intellektuelle Herzensergüsse und erotische Hirngespinste einer sich kasteienden Nonne? Traumgeboren aus der schlummernden Urgewalt des Eros, immer verdrängt und unterdrückt und sich dann lava-artig ergießend über das Papier? Buchstaben-Sex? Herausgeholt aus den Niederungen des Fleisches und ihrer Obsessionen und transformiert in die abstrakten Gebäude der Kunst? Und beim Lesen tauchen die Bilder der Lust und des Schmerzes auf, Hingabe und Verlust und Verblühen. Die Körper bekommen Gestalt und verlieren sich, zerstieben wieder im Nichts, aus dem sie gekommen sind. Und alles zergeht auf der Zunge wie ein Stück Butter. Ein Geschmack bleibt, im Mund.
Sor Juana läßt es offen und auf sich beruhen, „damit andere sie erörtern“. Sie spricht ganz offen und man erschrickt fast ob ihrer Offenheit, der Intimität, und gleichzeitig zieht sie sich wieder zurück und entzieht sich sich selbst und dem Anderen. Wie ein Phantom. Mit einer erstaunlichen Raffinesse, schlau und ausgeklügelt, spielt sie dieses Spiel. Permanente Selbst-Entblößungen, Geständnisse und Aufseufzer auf der einen Seite, und gleichzeitig verhüllt sie sich kokonartig, umgibt sich und bedeckt sich wie mit einem Kleid aus reinen, geschlechtslosen neutralen Buchstaben gewoben.

„Weder mein Frau-noch mein Fernsein
kann mich hindern, dich zu lieben;
denn du weißt: Die Seelen kennen
nicht Distanz und nicht Geschlecht.“

.......schreibt sie an die Vizekönigin von Mexiko und Gräfin von Paredes, Maria Luisa Manrique de
Lara. Es gibt keinen Grund, diesen Vierzeiler als anstößig zu betrachten, oder?

„Ich liebe, ich begehre den, der von mir geht,
doch ich verlasse den, der nach mir schmachtet.
Ich bete jenen an, der meine Liebe schmäht,
ich schmähe den, der nach mir trachtet.“

Und in der berühmten „Redondillas Hombres necios, eine Apologie, schreibt sie:


Stets die Frauen anzuklagen,
Ist es, Männer, wohl gescheidt,
Da ja selber schuld ihr seid,
Wenn sie unrecht sich betragen?
Ob ihr gleich mit aller Kraft
Ihren Widerstand bestreitet
Und zum Bösen sie verleitet,
Wünscht ihr sie noch tugendhaft?
Ihr bekämpft sie, um zu siegen,
Und dann predigt würdevoll
Über Leichtsinn euer groll,
Wenn sie eurem Sturm erliegen.
......................“

Es ist keine Frage, um was es hier geht, die Einstellung der Männer zur weiblichen Sexualität. Und die Männer kommen dabei nicht gut weg. Edmund Dorer, der das im 20igsten Jahrhundert übersetzt, läßt einige Zeilen, die ihm moralisch zu anstößig sind weg und setzt .....Punke..ein, Leerstellen, den deutschen Leser zu schonen. Aus Scham? Oder aus Taktgefühl?
Die Aussagen sind klar, „ihre Haltung gegenüber den zweierlei Geschlechtern“. Die Frauenbilder Sor Juanas sind sind lebendig und kraftvoll, während die Männer ihrer Sonette und Liras schattenhaft und konturlos bleiben. Auch eine heikle Angelegenheit. Aber warum? Eine Frau, die sich für Frauen stark macht, das Frau-sein definiert, für sich und für andere, die Frauen liebt, eine Lesbierin? Keusch oder nicht keusch? Octavio Paz sagt: „ Es heißt, sie habe geliebt und sei geliebt worden. Es ist nicht von entscheidender Bedeutung, ob es sich bei diesen Liebschaften um fremde oder eigene, erlebte oder erträumte Amouren handelt:sie machte sie sich zu eigen dank der Dichtung.“

So oder so, es bleibt „eine heikle Angelegenheit“. Sor Juana lebte freiwillig oder auch nicht ganz freiwillig in einem Kloster, nur Frauen um sich und einen Beichtvater für die „geistige Führung und Beistand“. Es gibt für sie keine Alternative, Ehe und Familie kommen für sie nicht in Frage. Und es ist naheliegend, daß es für viele Mitschwestern ähnlich war. Klöster, die Kirche überhaupt, waren sicher ein Ort oder ein Klima, ein möglicher Lebensraum für Menschen, die sich sexuell zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten oder die einfach nicht in das gesellschaftlich sanktionierte heterosexuelle Gesellschafts-Modell passten oder passen wollten. Eine in Männer und Frauen radikal getrennte religiöse Organisation, und nicht nur im Christentum, schreit doch förmlich danach, oder ist zumindest dafür prädestiniert. Die Klostermauern als Schutz vor der Verführung durch das andere Geschlecht, die Sünde. Aber die Sünde findet bekanntlich immer einen Weg und der Teufel eine Tür und sei es das Hintertürchen. Ein „Hortus conclusus“ innerhalb der Klostermauern, ein gebauter Ort , eine Eremitage zur Selbstvervollkommnung auf dem Weg zu Gott, der in sich selbst die größten Anfechtungen birgt, Tag für Tag.

Für die eigene Körperlichkeit gibt es nirgendwo ein Entkommen, auch nicht mit Selbstgeißelung und Selbstverachtung. Homosexualität war eine Todsünde und wurde mit dem Tode bestraft, Frauen wurden gern als Hexen verbrannt und schwule Männer wurden entsprechend ihrer „sexuellen Verfehlungen“ in der Regel durch Pfählen in das Reich der Toten , langsam, aber sicher und grauenvoll, befördert. Mit dem Einverständnis der Kirche. Und die Kirche, die meisten großen Religionen, der Islam und auch der sonst so als liberal geltende Buddhismus, als sogenannte Weichspüler-Religion, der er aber überhaupt nicht ist, haben damit bis heute ihre Probleme. Nicht nur mit der Homosexualität, sondern mit der Sexualität überhaupt. Das Körperliche ist von Anfang an ein Problem, mit dem inszenierten Sündenfall und dem damit erwachenden Bewußtsein. Der Mensch wird in die Nähe des Animalischen gerückt, das angeblich kein Bewußtsein hat und nur seinen Trieben gehorcht. Wobei man dem Tier damit mehr Unrecht tut, weil es weniger seinen Trieben, sondern seinem Instinkt gehorcht. Das Tier hat keinen Platz in der Erlösungsphilosophie des Christentums und auch die einzige vernehmliche Stimme, der hl Franz von Assisi, ändert daran nicht viel. Satan kommt in Gestalt einer Schlange und verführt Eva, die Frau. Tiefenpsychologisches Drama am Beginn der Schöpfung. Ein Feigenblatt verdeckt die Scham, das Schmutzige. Dem Körper als Gefäß der Seele haftet von nun an immer ein Makel an. Und Lust ist Sünde und die Sünde ist nackt und die Sünde ist eine Frau.

Und Gott ist ein Mann, Gottsohn und Gottvater, die Apostel sind Männer und die Evangelisten auch und das Priesteramt bleibt bis heute in der katholischen Kirche den Männern vorbehalten. Maria ist Jungfrau und rein, hat vom heiligen Geist in Gestalt einer Taube empfangen und ist deshalb Gottes Mutter. Maria Magdalena ist eine Hure, die unter dem Kreuz ihre Sünden beweint. Dazwischen gibt es nicht sehr viel Spielraum. Nur zum Beispiel: geht man vom Symbolgehalt von Bildern aus, spricht schon die Erschaffung Evas aus der Rippe des Mannes Bände. Sie ist aus ihm geboren und Teil von ihm. Ein Bilderbuch der Abhängigkeit. Und dient als Rechtfertigung über mehr als zweitausend Jahre Unterdrückung und Ausgrenzung der Frau.

Fallstricke des Glaubens.
In „der Antwort an Sor Filotea de la Cruz“ gibt Sor Juana in klarer und ungekünstelter Sprache von den alltäglichen Problemen ihrer Arbeit, das Ringen des Geistes ebenso wie permanente Gängelung von Mitschwestern oder ihrer Oberin. Und über „ihr Los als gemaßreglte Schriftstellerin, gerügt von stolzen und selbstsicheren Oberhirten, die keinen Zweifel an der eigenen Meinung kennen“ und die niemals in Frage gestellt werden kann und darf. Sie muß sich besonders deshalb vielfältiger Angriffe erwehren, weil sie eine Frau ist. Ihre Selbstrechtfertigungen werden notwendigerweise zu einer Verteidigung des weiblichen Anspruchs und dem Recht auf Bildung und der daraus resultierenden Stellung der Frau. Es ist für sie nicht vorrangig eine Frage der Macht, sondern ein urmenschliches Bedürfnis, den“ Durst nach Wissen zu stillen“.

Die „Antwort an sor Filotea de la Cruz“ trägt das Datum vom 1. März 1691. Der wahre Name des Adressaten war ein offenes Geheimnis: der Bischof von Puebla. Er hatte 1690 Sor Juanas kritische Auseinandersetzung mit der Predigt des portugieischen Jesuiten Antonio de Vieyra über „die Gnadenerweise Christi“ veröffentlicht. Es ist ihre einzige theologische Schrift, ein Auftrag eben dieses als „Sor Filotea“ verkleideten Bischofs von Puebla. Sie tat es „mit größerem inneren Widerstreben...., weil es da um heilige Dinge ging, vor denen ich...eine ehrfürchtige Scheu habe.“ Sie vertritt darin die Auffassung, daß die größten Wohltaten Gottes negativer Art seien: „Belohnung ist eine Wohltat, Bestrafung ist eine Wohltat und das Vorenthalten von Wohltaten ist die größte Wohltat, das Ausbleiben von Gnadenerweisen der größte Gnadenerweis“.

Der „verkleidete“ Bischof von Puebla ist ihr Freund, aber das gefällt ihm ganz und gar nicht. Unter dem Pseudonym schreibt er ihr einen Brief, der dem Antwortschreiben Sor Juanas vorangeht, daß es für eine Christen außerhalb der Gnade kein Leben gibt und die Freiheit selbst deren Widerschein ist. Und er sagt ihr klipp und klar, was er an ihren intellektuellen und literarischen Neigungen beanstanden zu müssen glaub: „ Ich verlange nicht, daß sich die Geistesart von Euer Gnaden ändere und Ihr auf Bücher verzichtet, sondern daß diesselbe sich bessere, in dem ihr das Buch Christi lest.........“ Und weiter: „Schade, daß ein so hoher Verstand sich derart auf die niedrigen, platten Erkenntnisse der Erde einläßt, daß er nicht vielmehr die Sehnsucht verspürt, das zu ergründen, was im himmel geschieht; und wenn er sich schon bis zum zum Boden erniedrigt, nicht noch tiefer dringt, um das zu betrachten, was in der Hölle geschieht.“

Der Bischof weiß sehr wohl, von was er spricht, er legt sozusagen den Finger in die Wunde und konfrontiert Sor Juana total mit sich selbst, ihrem Leben. Und er stellt damit nicht nur ihre Berufung als Nonne in Frage, die sie nicht mit „innerem Brennen und Verlangen“ gewählt hat, sondern ihre gesamte Existenz. Sie sagt selbst: „ Ich tat es, trotz alledem, da der geistliche Stand sich am ehesten mit meiner totalen Abneigung gegen die Ehe verträgt und der angemessene Ausweg war, den ich wählen konnte im Blick auf die von mir ersehnte Gewißheit meiner Erlösung.“........Und an anderer Stelle: „ Ich wählte den Stand, dem anzugehören ich so wenig verdient habe. Ich dachte, daß ich auf diese Weise mir selbst entkäme; aber weh mir, ich brachte mich selber mit, schleppte meinen schlimmsten Feind ein, mit dieser Abneigung, von der ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen weiß, ob sie mir als Glückspfand oder als Strafe vom Himmel zugeteilt worden ist. Denn die Unterdrückung und Störung durch die vielen Exerzitien, welche zum ordensleben gehören, hatte zur Folge, daß die niedergehaltene Leidenschaft wie Schießpulver explodierte; und es bewahrheitete sich an mir der Spruch: „Privatio est casa appetitas“. ( Mangel erregt Begierde.)

Sor Juana versteckt und verstellt sich nicht. Sie weiß, von was sie spricht. Ihr gesamtes Leben ist ein Hochseilakt, von dem sie jeden Moment zu stürzen droht. Von Beginn ihres Lebens bis zu ihrem Ende lebt sie in diesem Zustand: der Konflikt, nie ganz sich selbst sein zu können. Es gibt für sie nicht wirklich einen Platz, einen ihr angemessen Ort, nirgendwo, wo sie das Leben führen kann, das sie gerne möchte. Eine Frau als Schrifstellerin ist im Gesellschaftsmodell der Zeit nicht vorgesehen. Und in der Kirche, die im Wesentlichen das Leben und die Gesellschaftsformen und – Normen bestimmt, schon gar nicht. Und gleichzeitig die einzige Möglichkeit, der Fluchtort.

Das ist die Tragik ihres Lebens, deren sie sich immer bewußt war. Sie bleibt dabei und sie beharrt weiterhin auf ihrem Recht auf Bildung, die Literatur. „ Um die höchsten Dinge zu verstehen, muß man erst ein mal die Erde, das Leben und die Welt, in der wir leben, lernen und verstehen.“
Un d sie bemüht die ganze Reihe der großen Frauen herbei, „von der verwitweten Blaesila und der strahlenden Jungfrau Eustochium, der ägyptischen Katharina und der heiligen Paula bis zu der Königin Dona Isabel, die bekanntlich über Astrologie schrieb.“ Zählt sie alle auf, stellt sich, immer auch etwas kokett, ihre eigene Unwissenheit betonend in eine Reihe mit ihnen, Schutzschildern gleich. Aber sie ist keine Theresa von Avila, keine Mystikerin. Es drängt sie nicht zur Kontemplation, sie sucht die Erkenntnis, das Hinterfragen und sie schaut hinter die Dinge der sichtbaren Welt und ihre Phänomene und will sie verstehen. All das Schöne und das Schreckliche, und ihre Zusammenhänge von dem, was ist. Das ist neu und ist einem naturwissenschaften Denken von Ursache und Wirkung näher als teleologischen Kausalitätsvorstellungen und mit dem religiösen Transzendenzbegriff der Kirche unvereinbar.

„Und sie gibt nicht nach, bis zu dem Moment,da die Türen sich endgütig hinter ihr schließen.“ Auf der Höhe ihres Ruhms bricht das kunstvoll aus Traum und Wirklichkeit von ihr erbaute Kartenhaus schicksalhaft über ihr zusammen. Das Vizekönigspaar kehrt 1688 nach Spanien zurück und sie ist damit ohne Schutz. Der neue Erzbischof von Mexio, Francisco Aguiar y Seijas und die Inquisition bringen sie zum Verstummen. Sie wird gezwungen, das Schreiben aufzugeben und ihre gesamte Bibliothek wird veräußert, ebenso ihre astrologischen Geräte und die Preziosen ihrer Wunderkammer. 1694 unterzeichnet sie „freiwillig“ und angeblich mit ihrem eigenen Blut „Yo, la peor de todas“ (Ich, die Schlechteste von allen) ein Schreiben, indem sie auf das Schreiben und die Literatur verzichtet und dem Versprechen, sich nur noch entsprechend ihrer Berufung als Nonne den geistlichen Dingen zu widmen.

Bei einer Seuche, vermutlich die Pest, pflegt sie ihre Mitschwestern und infiziert sich dabei. Sor Juana stirbt am 17. 4. 1695 und wird in einem Massengrab beigesetzt. Das Opfer ist vollbracht.

Jahre nach ihrem Tod fordern die Schwestern des Klosters die kostbaren und wertvollen Geschenke, die Sor Juana im laufe ihres Lebens erhalten hat und die ebenso konfisziert wurden, mit dem Argument, daß das eigentlicher Besitz des Klosters sei, von dem Erzbischof zurück.

Das ehemalige Kloster, in dem Sor Juana lebte, ist heute Universität im Zentrum von Mexiko. Ihre Gedichte werden gelesen und sie ist omni-präsent, überall in der Stadt, schaut sie heraus aus Bildern, Plakaten, von Wänden herab oder aus Speisekarten, manchmal auch etwas verblichen, mit ihren dunklen Augen.....

„Elisabeth von Thüringen oder Das Leben ist kein Zuckerschlecken“


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Hommage à Franz Anton Maulbertsch
„meinem Vater in der ersten Stunde“


„Gewidmet Franz Anton Maulbertsch, meinem Vater in der ersten Stunde“, steht in einem Katalog, der anlässlich meiner Ausstellung in der Wilhelmshöhe in Ettlingen 1989 erschien. Neben minimalistischen Figuren-Zeichnungen, Malereien und Rauminstallationen hingen in den lichtdurchfluteten Räumen auch kleine von mir übermalte Foto-Collagen der Abbildungen von Fresken Franz Anton Maulbertschs. Erste Versuche einer Annäherung an den großen Maler. Eine ganz persönliche Annäherung. Schnell gemalt, intuitiv und skizzenhaft. Vergleichbar einem Gespräch, einem Dialog oder einem Liebesbrief. Keine kunsttheoretischen oder kunsthistorischen, malerischen Untersuchungen. Wie kommt ein zeitgenössischer Künstler dazu, sich mit einem Künstler des 18. Jahrhunderts auseinanderzusetzen? Und dazu einem weitgehend Unbeachteten, von der Kunstgeschichte eher stiefmütterlich behandelt. Nahezu unbekannt, oder soll ich sagen, verkannt? „Meinem Vater in der ersten Stunde“ – eine Hommage an den Künstler Maulbertsch und gleichzeitig so etwas wie ein Bekenntnis. Der „geistige Vater“ und das unerklärliche Gefühl der Nähe, einer Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten und doch so Vertrauten. Es ist so etwas wie „eine Heimat im Gefühl“. Ein wortloses Verstehen. Und zwar sofort, mit den ersten Bildern, die ich von ihm gesehen hatte in dem großen Band von Klára Garas.1

Aufgewachsen bin ich in Oberschwaben und habe den Barock sozusagen eingesogen mit der Muttermilch. Es ist die gleiche Heimat wie die von Maulbertsch, nur dass er tagtäglich in seiner Kindheit den Bodensee und bei Föhn das Alpenpanorama vor Augen hatte und ich einen Weiher, der zum elterlichen Hof gehörte. Oberschwaben gehörte im 18. Jahrhundert noch zu Habsburg, kulturell wie auch geographisch, und nicht zu Württemberg. Es ist aber nicht allein der Ort. Und es ist nicht allein die Landschaft, das ähnliche Klima oder die Luft. Aber was ist es? Ist es der „Genius locii“ oder ist es das Karma, die Wiedergeburt einer geistigen Energie? Oder ist es ein Virus? Ja, bestimmt, das muss es sein. Ein Virus, der einen, wenn er einen einmal befällt, nie mehr loslässt. Oder sind es die Verwirrungen eines Zuspätgeborenen, Zuspätgekommenen, der durch die Schichten der Malhaut verstaubter Fresken die Räume längst vergangener Epochen betritt? Ich selbst habe mir die Frage über Jahre immer wieder gestellt. Was ist es, was mich von Anfang an an Maulbertsch begeistert und was ist es, was mich immer wieder getrieben hat, die Orte zu besuchen, dort zu sein und seine Bilder anzusehen. Die Luft der Kirchen, der Räume atmen und in die Bilder eintauchen, über zwanzig Jahre hinweg. Es ist, vielleicht, wie in der Liebe – ein Wiedererkennen des Eigenen in den Augen des Anderen, sich selbst auf der Spur...

Dieser Frage auf den Grund zu gehen, den Versuch des Unerklärlichen für mich genau zu erforschen und transparenter zu machen, das will ich hier in diesem Vortrag in der großen Jubiläumssaustellung „Franz Anton Maulbertsch und sein Kreis in Mähren“ im Museum in Langenargen am Bodensee tun.
Während meines Studiums an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe hatte ich im dritten oder vierten Semester die für einen Kunststudenten typische, und erst im Nachhinein sichtbar ... auch notwendige und fruchtbare Krise: Wozu das alles, die Kunst, die ganze Plackerei? Mein damaliger Professor Albrecht von Hancke empfahl mir, außerhalb der Akademie einen Raum, ein Atelier zu suchen, um dem Akademischen zu entkommen, wie er sagte: „Das ist nix für Sie hier“. Als auch das allein nicht half, schickte er mich auf Reisen. „Entweder einen Rothko in einem Museum anschauen und sich solange vor das Bild zu setzen, bis sie wissen, was sie wollen... oder nach Österreich, die Tschechoslowakei und Ungarn“, sagte er. „Schauen – Sie sich Maulbertsch an. Das ist ganz große Malerei. Gestisch, wild, leidenschaftlich und expressiv, aber darunter verbirgt sich eine strenge, ganz klare Komposition.“ Den Namen hörte ich zum ersten Mal. Und heute weiß ich, warum er mich damals zu Maulbertsch schickte.

Unser Professor in der Kunstgeschichte erwähnte den Namen nicht einmal, auch nicht, wenn ich ausnahmsweise mal dort war. Und in der Bibliothek der Kunstakademie gab es auch nichts über ihn. Aber in der Badischen Landesbibliothek wurde ich fündig: Den großen Band des Amalthea-Verlags in Wien von Klára Garas mit 132 Abbildungen und 16 Farbtafeln, die entweder im Laufe der Zeit so ausgebleicht oder so schlecht gedruckt waren, dass sie wie verschollene und wieder gefundene Rembrandts aussahen. Sehr dunkel und viele Brauntöne. Aber das tat meiner Faszination keinen Abbruch. Der Funke sprang über. Intuitiv suchte ich für meine erste Reise die Orte aus, in denen ich die Bilder zu sehen hoffte, die mich am meisten ansprachen: Brünn-Königsfeld/Brno-Královo Pole, Kremsier/Kroměříž, Sümeg und Bohuslawitz/ Bogoszló/Trenčianské Bohuslavice. Die Orte auf der Landkarte zu finden, war nicht einfach und an Ort und Stelle noch weniger. Mit einer „Nikon F“ ausgerüstet, die ich mir in New York gekauft hatte, machte ich mich auf den Weg. Und dann: Zum ersten Mal Maulbertsch im Original, die Fresken in der ehemaligen Kartause in Královo Pole und das Hochaltarbild in der Thomaskirche in Brünn an einem kalten Sonntagmorgen. Die Wucht der Gestalten, die Komposition, das Hell-Dunkel, die ausdrucksstarken Köpfe der Apostel und Jesus, wie aus dem Bild in großer Bewegung und Kraft heraus schreitend in den Raum. Ganz Licht, in Rot und Weiß gehüllt wie in einen Kokon. Königsfeld. Es war nicht einfach, jemanden zu finden, der die Kirche aufschloss. Aber als ich in dem kleinen, schmalen Raum der Sakristei stand, gingen mir buchstäblich die Augen auf. Im Verhältnis zu anderen Fresken-Zyklen ist Königsfeld ein wenig stiefkindlich vernachlässigt und weniger beachtet und beschrieben. Aber ich begriff hier, dass Kunst sich nicht in der Reproduktion, in der Abbildung, sondern nur im Original wirklich vermittelt. An Ort und Stelle. Ich sah die Malspuren, den Auftrag der Pinselstriche aus der Nähe. Ich spürte fast körperlich die Präsenz der Bilder und das für Maulbertsch so Typische und Unverwechselbare: das Glühen und Leuchten der Farben und ein ganz eigenes Kolorit. Himmel und Erde, die Grenzen sind fließend und durch die ekstatisch aufgeladenen Figuren mit einander verbunden und ineinander verwoben. Wie ein reicher farbenprächtiger Tibet-Teppich, Mikround Makrokosmos, himmlisch und irdisch, die Gegensätze werden aufgehoben. Das Banale, Alltägliche begegnet dem Göttlichen oder umgekehrt in einer Art und Weise, als ob es das Allernormalste der Welt wäre, ganz selbstverständlich.

Der Hl. Joseph als Schreiner, aufgeschreckt aus dem Schlaf von einem Engel. Und wie die große Säge da neben ihm am Boden liegt und das Beil, das habe ich bis heute nicht vergessen. In einem anderen Bild liegt der Prophet Elias in einer Flusslandschaft, in der sich im Bildhintergrund, in der Flucht, alles auflöst in zarten Umrissen und verschwimmt in den schönsten Blau-Weißtönen. Neben ihm eine weiße Decke, die der alte Mann vor sich ausgebreitet hat und auf der der herab schwebende Engel gleich notlanden möchte, mit geöffneten Armen. Der Engel ist aus Fleisch und Blut und gleicht mit seinen blauen Flügeln eher einer Libelle in Menschengestalt. Alles ist Stille in diesem Bild. Und lautlos. Selbst die Blätter der Bäume scheinen die „Luft anzuhalten“. Den Zyklus der Engelsbilder hat Maulbertsch in gotische Spitzbogenfelder gemalt. Der nicht sehr helle Raum ist schwierig und man sitzt etwas beengt in den Bänken. Aber nach längerem Betrachten der einzelnen Bilder verliert sich der Eindruck völlig, kehrt sich fast ins Gegenteil. Der Raum, in dem ich ganz allein sitze, bekommt etwas ganz Intimes und Wertvolles. Ich habe das Gefühl, ich sitze in einem überdimensionalen Schrein und bin fast voyeurhaft Zeuge des phantastischen himmlischen Geschehens. Das ist keine bloße Bibelillustration und Märchenstunde oder Bilder aus vergangenen Zeiten oder Anekdoten. Das ist Jetzt-Zeit, das sind Bilder, die aus dem Kosmos der eigenen Seele aufsteigen und ... deshalb zeitlos. Und das macht auch die Malerei von Maulbertsch aus – sie ist heute noch genauso modern wie vor 238 Jahren.

Oder Johannes auf Patmos. Es ist für mich die überzeugendste und faszinierendste Darstellung dieses Motivs. Im linken unteren Bildrand, diagonal, steht, halb kniend, Johannes. Von dem Adler und einem offenen Buch, in dem der Wind die Seiten blättert und einem großen Stein an den Abgrund gedrängt, in den er jeden Moment zu stürzen droht. Ein Engel aber auf einer opalrosa Wolkenlandschaft dockt gerade raumschiffartig an und bewahrt ihn vor dem Allerschlimmsten. Und hält ihn. Die Berührung der Hände einerseits und andererseits die Blicke der Augen sind wie ein unsichtbares Band, eine Linie. Und wie die Puderwolke an die Erde stößt... hier treffen Himmel und Erde aufeinander. Kein Laut, nur das Rauschen der Flügel. Und über allem thront Gottvater in seiner Glorie auf dem allerschönsten Regenbogen. Reine Lichtgestalt steigt ein Engel in einem weiteren Bild in einer gelblich-ockerfarbenen Aureole aus Himmelswelten hernieder und überbringt dem opfernden Zacharias die Nachricht der Geburt eines Sohnes. Gibt es einen anderen Maler, der ein solches Weiß malen kann, grünlich schimmernd, perlmutt-artig und in allerfeinsten Nuancen? Der Körper nur ganz leicht und umrisshaft angedeutet. Es ist nur die Erinnerung an Körper. Und wie hingehaucht auf die Wand: die Transzendenz, das Göttliche, das Wunder, das nicht Fassbare und Geheimnisvolle des Götterboten. Und eine Erotik, die einem auf der Zunge zergeht. Der Meister des Isenheimer Altars, Grünewald, hat einen würdigen Nachfolger!

Ob Maulbertsch jemals eine schwimmende Qualle sah? Oder einen Rochen, wie er über den Meeresboden gleitet? Oder auf dem Bildschirm die Kontraktion des Herzmuskels? Nein, vermutlich nicht. Aber die Schönheit in der Bewegung, der Leichtigkeit, der Eleganz, das Transparente und Durchscheinende an der Grenze des Materiell-Immateriellen einer schwimmenden Qualle im Meer atmet hier. Maulbertschs Welt ist voller Götter. Alles atmet, lebt. Jede Pflanze und jeder Stein birgt in sich die Gegenwart gottgleicher Mächte. Was wir mit unseren eigenen Augen nicht sehen, oder nicht sehen können, aber erspüren oder nur erahnen, das zeigt Maulbertsch. Und wir glauben ihm, das macht ihn einzigartg!

Die Ganzheit der Dinge, der Wahrnehmung – er lässt nichts aus und er schaut genau hin, speichert das Gesehene in seinem inneren Museum und holt es hervor und setzt es instinktiv an der richtigen Stelle ein. Alles ist permanent anwesend. Und nichts ist unwichtig und nebensächlich oder verkommt zur puren Dekoration. Ein knorriger Ast ist ein Ast, ist hart und zum Brechen trocken. Die Luft ist Luft und die Blätter sind grün. Menschen haben einen Körper, auch unter den Stoffen, Leinen oder Seide und man spürt ihre Materialität, hört das Rascheln oder Knistern. Die Körper haben ein Gewicht, Masse und Fleisch und Blut. Die Haut ist Haut und die Augen sehen und schauen von innen nach außen. Und Engel fliegen leicht wie Vögel fliegen. Und der Prophet Elias ist wie der Nachbar von nebenan, den man kennt. Er hat einen weißen Bart und weiße Haare, ein alter Mann mit braungebrannter, von Luft und Wetter gegerbter Haut. Er hat große Hände und Füße, überproportional groß, riesig, als ob sie eine eigene Sprache sprächen und losgelöst ein Eigenleben führten. Wie Maulbertsch Hände und Füße einsetzt in der formalen Gestaltung und sich nicht im Geringsten an anatomische Gesetze hält, sieht man vor allem in den Arbeiten der frühen expressiven Periode. Wie er die Körper gleichsam aus dem Boden in den Himmel wachsen lässt, manieristisch verformt, überdehnt und dadurch die Expressivität steigert und trotzdem die Harmonie im Gesamteindruck des Bildes bewahrt, ist in der Zeit nirgendwo sonst zu finden. Und nicht von ungefähr wählt Klára Garas für ihr großes und großartiges Werk über Maulbertsch Kokoschka, einen Hauptvertreter des Expressionismus im zwanzigsten Jahrhundert, für ein Vorwort aus. Wie Maulbertsch zum Beispiel im Bild des Martyriums der Heiligen Judas Thaddäus und Simon aus dem gespenstischen Dunkel heraus Hände, Füße, Körper und Körperteile fragmentartig aufleuchten, aufblitzen lässt, ist in seiner Expressivität einzigartig. Garas beschreibt das in ihrem Buch in eindringlichen Worten und bezeichnet dieses Bild zu Recht als eines der schönsten Werke Maulbertschs und eine der erschütterndsten Schöpfungen in der Malerei des Spätbarock. In der Malerei überhaupt, möchte ich hinzufügen.

Auch die Kreuzigung und die Auferstehung in Sümeg gehören dazu. Überhaupt die ganze Kirche. Man muss und darf die Kirche nur als ein Ganzes betrachten, als ein Gesamtkunstwerk, in dem jedes einzelne Bild mosaikartig seinen Platz und seine Bedeutung hat. In der Kreuzigung ist jede der Gestalten mit sich beschäftigt, allein im Leid und im Schmerz, wie isoliert und ganz für sich. Fast autistisch, ob im Würfelspiel oder auf dem Pferd, neben dem Kreuz, oder unter dem Kreuz. Der Himmel ist wie ein unendlicher gähnender Abgrund, dunkelste Nacht. Nur das strahlend weiß leuchtende Pferd mit der herrlichen Mähne blickt mit fast menschlichen Augen heraus aus dem Bild, den Betrachter direkt fokussierend oder konfrontierend mit dem Entsetzlichen, was da gerade passiert. Alles sonst ist in schwere erdige Farben getaucht und zu äußerster Expressivität gebracht durch das ganze Gebärdenrepertoire menschlicher Hände und die Sprache der Körper.
Ebenso in der Anbetung der Könige. Das sind keine schönen, eleganten „nordisch-gotischen“ Hände. Das sind eher Ausstülpungen, Fortsätze, wurst-artig, oder fleischig, plump, oder dünn und fragil und zerbrechlich und durchscheinend, aber es sind Hände, zum Anfassen und Hände, die sprechen. Und man meint beinahe die Haut der Hand des Babys zu riechen, wie der alte König im gelben Hermelinmantel.

Und in der Predigt des Petrus. Wie die Frau im Vordergrund mit ihrem Kind auf dem Boden sitzt und mit ihrer weichen, fleischigen, zart rosa Hand ihr weiches zart rosa Gesicht aufstützt und mit der anderen Hand die Füßchen des Kindes weich und liebevoll umfasst. Und ihre großen Beine und Füße, schwer am Boden liegend, aus dem Bild heraus zu wachsen scheinen. Alles strahlt Ruhe aus, genau unterhalb von Petrus, dessen muskulöse Beine und Füße kraftvoll auftreten. Hier bin ich! Sein rechter Arm, ausgestreckt, und mit erhobenem Zeigefinger, wächst die Hand aus dem blauen Ärmel heraus wie ein Ast aus einem Baumstamm. Genau darunter betende Hände, hell und weiß, das sind Hände, die noch nie etwas angefasst haben. Links davon die dunkle, schwarze Hand des Mohren in Grün. Und die kräftigen braun gebrannten Arme und Hände des Mannes aus der asiatischen Steppenlandschaft links vorne im Bild. Und im Hintergrund silhouettenhafte Gestalten mit erhobenen Händen. Überall Hände. Und Köpfe. Und dann vor allem im Triptychon der Himmelfahrt. Konzentriert man sich in der Betrachtung des unglaublichen Geschehens, wie Christus hier statisch und schwerelos entschwebt – der Vorhang über ihm ist geöffnet – einmal ganz auf die Arme und Hände, ist plötzlich alles in großer Unruhe und Bewegung. Die ganze Aufregung der im Bild Anwesenden zeigt sich darin. Ein grandioses Theatrum Sacrum ! Die Welt ist Bühne, ganz im Sinne der Gegenreformation. Mit allen Sinnen und man meint, die Musik zu hören.

Maulbertsch geht in seiner Konzeption der rundum ausgemalten Kirche ganz zurück zu den Anfängen des christlichen Abendlandes. Adam und Eva stehen am Anfang. Und jeder, der diesen Raum betritt, geht wieder diesen Weg – die Frage nach der Schuld. Ein roter schöner Apfel, das erste Menschenpaar. Nackt. Und das verlorene Paradies. Am Ende steht aber nicht der Tod, sondern, in hellstem Licht, die Himmelfahrt. Die Auflösung des Materiellen und die Verwandlung des Körpers. Es gibt keinen anderen Weg. Vorbei an den Propheten des Alten und Neuen Testamentes. Verkündigung und Geburt und Beschneidung und die heiligen drei Könige. Die Kreuztragung und Tod und Auferstehung. Der Kirchenraum ist wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch in einer klaren Abfolge, ein durchdachtes Konzept und Programm. Vorgegeben von Martin III. Biró von Págany. Aber die schon hunderttausend mal gemalten Motive, die andere Künstler herunterleiern, schablonenartig auf die Wand malen und brav wiederkäuen, sind hier in einer ganz eigenen und einzigartigen Intensität des Erlebens dargestellt – als ob man das alles wie zum ersten Mal sähe. Keine Spur von Konvention und Althergebrachtem! Alles ist durchdrungen von einer tiefen Verinnerlichung der eigenen Gefühlswelten und gesteigerter Expressivität und von extrem subjektiver Ausdruckskraft.

Man sagt, dass kurz vor dem Tode noch ein Mal alle Bilder des Lebens vor dem geistigen Auge eines Menschen vorüber ziehen. Vielleicht vergleichbar dem Ende einer Epoche der Geschichte, einer Ära, kurz vor der Auflösung oder dem Auseinanderbrechen gesellschaftlicher Strukturen. Alles verdichtet sich noch ein Mal zu äußerster Konzentration und wie am Ende der Renaissance der Manierismus die schönsten Blüten treibt, sprießen die Blumen des Rokoko aus dem in den letzten Atemzügen darnieder liegenden Kadaver des Barock. Tiere, und vor allem Pferde spüren instinktiv schon früh ein kommendes Erdbeben. Das weiße Pferd mit dem Schaum vor dem Maul in der Kreuzigung in Sümeg scheint mehr zu wissen über das drohende Unheil und das, was sich über ihm zusammenbraut, als alle anderen. In dem archaischen Thema der Kreuzigung findet Maulbertsch nicht nur zu einer allgemein gültigen Metapher von Vergänglichkeit und Tod, sondern vergegenwärtigt lebendig das Geschehen in die Aktualität der Zeit.

Der Künstler als Seismograph der Gesellschaft, kein Hellseher, aber mit einem Gespür für gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche ausgestattet. Es ist die Zeit des „Sturm und Drang“ in der Literatur und ebenso in der Musik. Allen voran Joseph Haydn (1732–1839). Das Vorwärtsdrängende, Pulsierende, das Unruhige, Hastende und Rastlose und das leuchtende Aufblitzen aus dunklem Moll in seinen Symphonien ist neu, in der Musik so noch nie gewesen. Und die Innbrunst und tiefe Religiosität und gleichzeitig auch Freude und Heiterkeit in seiner Kirchenmusik mit einer ganz eigenen Sprache und Ausdruck der Empfindung ist ebenso ein Novum und wird auch entsprechend kritisiert. Ebenso bei Johann Baptist Vaňhal (1739–1813), der erste freie Musiker und einer der vielen großen, fast vergessenen, tschechischen Komponisten am Ende des 18. Jahrhunderts.
Einige Jahre später fahre ich nach Seelau/Želiv, um die beiden großen Ölbilder von Maulbertsch dort zu sehen. Dort begegne ich Johann Santini-Aichl, dem Baumeister der „Barock-Gotik“ zum ersten Mal, ungewollt und überraschend. Geschult an Fischer von Erlach und Borromini in Rom, findet er zu einer Synthese der feingliedrigen Gotik des Nordens und des überquellenden und opulenten und gleichzeitig tief im Mystischen verankerten Barock aus dem Süden. Auch er einer der ganz großen und außergewöhnlichen Persönlichkeiten dieser Zeit und heute, ähnlich wie Maulbertsch, beinahe vergessen. Als ich einmal einer Kollegin von der Fakultät Architektur von Santini-Aichl erzähle, hört sie von mir den Namen zum ersten Mal. Im Studium war der Barock kein großes Thema und der Grund war nicht nur der eiserne Vorhang. Loránd Hégyi, der für mich eine Ausstellung in Budapest organisierte und später Leiter des Museums modener Kunst im Palais Liechtenstein in Wien war, hatte vor vielen Jahren und damals noch an der Kunsthalle in Budapest als Kurator tätig, die Idee, dort eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst zu machen. Und zwar von Künstlern, die heute innerhalb der ehemaligen Grenzen der DonauMonarchie leben.
Auch mit der Absicht, dem Gedanken, ob vielleicht noch etwas spürbar ist von der Vielfalt und Üppigkeit der brodelnden und überschäumenden Energie des Vielvölkerstaates der Habsburger. Leider kam es nie zu dieser Ausstellung, aus finanziellen Gründen wahrscheinlich. Ich war dazu eingeladen, war ich doch innerhalb dieser Grenzen geboren und aufgewachsen im katholischen, barocken Oberschwaben. Die Grenze zu Württemberg war nicht weit und für meine Mutter waren das, sind das nach wie vor „die Protestantischen“. Die Mauern, die nicht aus Stein errichtet werden, leben länger. Der Todesstoß für den Barock kommt dann auch aus den protestantischen Ländern, aber so weit sind wir noch nicht.

Zurück nach Seelau also mit dem Umweg über Budapest und den oberschwäbischen „Glaubensgrenzen“. Sicher aber sind diese beiden großen Altarblätter der Seitenaltäre, von der Sonne, dem Licht ausgebleicht und die Spuren der Zeit unübersehbar, für jeden „protestantisch“ empfindenden Menschen ein „Gräuel“ und an der Grenze des Erträglichen! Ja, geradezu geschmacklos, wie hier der selige Hermann Joseph, mein Namenspatron, hingebungsvoll die linke Hand an das Herz hält und die rechte Hand der Heiligen Frau in rotem Kleid und blauem Mantel verzückt hinstreckt. Lasziv, die weißliche langgliedrige Hand des in vornehmsten GrisailleFarben gekleideten Ordensmannes. Sein Gelübde der Keuschheit dringt bis in die Fingerspitzen. Nur ein leichtes Rot auf den Wangen und das schon fast verblühende Rot der Lippen, ähnlich dem Rot der Rosen neben ihm, zeigen seine Hingabe, sein Gerade-noch-Mensch-sein. Und wie Maria seine Hand hält, um ihm als Zeichen der mystischen Verlobung den Ring über zu streifen, ist von einer außergewöhnlichen Schönheit und von knisternder Erotik – im Zentrum des Bildes in den sich kreuzenden Diagonalen! Und weil das Maulbertsch nicht genügt, legt der heilige Joseph, der anvertraute Begleiter der Himmelsdame, seine große schwere braungebrannte Pranke, die ein Leben lang hart gearbeitet hat, auf den Rücken des geistlichen Herren. Sozusagen une ménage `a trois. Doch die liliengleichen Himmelsboten sind anwesend und alles hat seine Ordnung in dieser barocken Kulisse zwischen Traum und Wirklichkeit. Es ist die blaue Stunde. Der Engel im linken oberen Bildrand gehört für mich zu einem der schönsten der vielen geflügelten Himmelsgestalten des großen Malers. Sehr körperlich jünglingshaft und von hoher Eleganz mit seinen großen Flügeln. Und das Fleisch, das der selige Mann ein Leben lang durch Kasteiung und Buß’ und Reu’ gegeißelt und in Schranken gehalten hat, das haben die nackigen prallen Putten umso mehr. Der Himmel auf Erden! Maulbertsch hat einen feinen und hintergründigen Humor und saftige Ironie. Er weiß dass das Menschliche, allzu Menschliche sehr oft und gerade im Heiligen nistet. Er hat keine Scheu, das Allerheiligste neben das Profane, das Zarte gegen das Gewaltige und Gewalttätige und das Weiche gegen das Harte und Kantige zu stellen. Im Gegenteil. Höchsten Ausdruck – und das macht ihn zu einer der herausragendsten Gestalten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – erreicht er gerade dadurch, dass er die Gegensätze ins schier Unerträgliche steigert und bis ins Letzte auslotet. In der Verklärung eines Bischofs in der Österreichischen Galerie Belvedere hat er das zu höchster Meisterschaft getrieben. Wie ein Vulkan Asche und Lava hervorschleudert, so taucht hier aus einer rotbraunen graugrünlichen Wolke irrlichternd und in ein prächtiges Gewand gehüllt der Heilige auf. Getragen von einem Vogelmensch-ähnlichen Wesen, aus dessen muskulösem Rücken die zartesten Daunenfedern und die langen Flügel wachsen, die die saftigen Pfirsich-Po-Backen gerade noch züchtig verdecken. Im Gegensatz zu der warmen Haut das tief lapislazuli-blaue Tuch, von dessen Farbe man die kalte Herkunft spürt: den Stein, gewachsen in der Ewigkeit von Jahrtausenden. Und im Kontrast dazu das changierende Weiß des Gewandes des Heiligen aus schimmerndem Perlmutt, aus dem ein roter Samtschuh hervorragt, ähnlich wie der von Benedikt XVI., der aber von Prada ist. Daneben das untere Ende des Bischofstabes, der so leicht auf der Wolke aufliegt wie eine Schneeflocke auf der Haut landet. Parallel das blanke Schwert, von dem rotes Blut tropft, das gleiche Rot wie das der silhouettenhaft am Boden liegenden Mitra, in den bloßen Händen eines nackten Kindes. Wie Maulbertsch hier die Gegensätze gegeneinander stellt und die Farben zum Glühen bringt ... Mehr geht nicht! Und wie die glühende Lava erkaltet und zu Stein wird, grau, kalt, steingrau, und sich verfestigt und erstarrt, so stehen am Ende des künstlerischen Lebens von Maulbertsch Vác, Steinamanger/Szombathely, Erlau/Eger und Strahov (Prag)

Ich werde nie den Schrecken vergessen, als ich am Ende meiner ersten Reise in der Klosterbibliothek von Strahov stand. Es ist alles da, das ganze Repertoire, Formen und Farben. Aber die Figuren sind wie aus Pappe, Pappmaché, wie Abziehbilder. Leblos, als ob alles Blut aus ihnen gewichen wäre. Und der Geist und die Seele gleich mit. Wie sie da alle sitzen auf künstlichen Wolken, teilnahmslos, müde und ohne Bezug zueinander und isoliert. Die Farben leuchten, aber glühen nicht mehr. Die Gesichter sind Masken. Alles ist körperlos und entseelt. Die Engel und Putten fliegen nicht mehr und sind wie mit Reißnägeln an einen Himmel geheftet, der auf eine Kalkwand gemalt ist. Und nicht mehr und nicht weniger ist. Theaterkulisse. Goethe und Winckelmann haben ganze Arbeit geleistet! Alles ist von stiller Einfachheit und erhabener Größe.

Beide reisten nach Italien, in das „gelobte Land, wo die Zitronen blühn und die Goldorangen glühn...“, die Geburtsstätte des Barock. Aber sie schauen nicht nach links und nicht nach rechts und gehen mit Scheuklappen durch das Land. Kein Caravaggio und kein Tizian und kein Tiepolo und auch nicht San Clemente oder Santo Stefano Rotondo. Sie sehen nur, was sie sehen wollen in den Ruinen des Forum Romanum. Das Zeitalter der Aufklärung ist auf seinem Höhepunkt. Vernunft und Einfachheit sollten den dominierenden Einfluss der Religion und den Formenreichtum des feudalen Barock in Schranken weisen und ablösen. In seinem Hauptwerk Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 schreibt Winckelmann: „Da nun die weiße Farbe diejenige ist, welche die mehresten Lichtstrahlen zurückschicket so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist.“ Er ging davon aus, dass die Plastiken der Antike und auch die Architektur, die er als Archäologe gesehen und studiert hatte, durchweg unbemalt waren. Ein folgenschwerer Irrtum. Mengs, mit Winckelmann befreundet, malt in der Villa Albani in Rom das Parnass-Bild an die Decke in der Art eines gerahmten Tafelbildes. Streng symmetrisch angeordnet die Figuren. Statuarische Gestalten und der Verzicht auf Hell-Dunkel-Effekte. Vor allem, kein Verschmelzen der Farben. Sein Buch Gedanken über die Schönheit und den Geschmack von 1762 wurde in vielen Akademien als Lehrbuch verwendet. Die Idee vom „Einfachen und Schönen“ wird zum Ideal erhoben und wird zur Diktatur des Geschmacks und der Ästhetik. Zum Entweder – Oder. Und soll „ohne Verwirrung, ohne schreienden Kontrast“ sein und in keine „wilde Kühnheit und Überladung ausarten.“ 2 Auch die Professoren der Wiener Akademie sind literarisch „hoch“ gebildet, sozusagen auf dem neuesten Stand. Maulbertsch hat dort keine wirkliche Chance und gilt schon 1768 in akademischen Kreisen als ein Außenseiter und als veraltet, auch wenn sein Freund Schmutzer versucht, ihn „glatt zu bügeln und verständlich zu machen“. Es ist ein Sieg der Literatur, des Wortes über die Bildende Kunst. Und es ist der Beginn des Akademismus.
In Gesprächen mit Klára Garas habe ich immer wieder über das „Einbrechen des Klassizismus“ bei Maulbertsch diskutiert. Sie betrachtet den Beginn in der gerade neu renovierten Kirche in Mühlfraun/Dyje, die sie aus diesem Grunde „ nicht so sehr mag “. Es gibt wenig Beispiele in der Kunst für einen solch radikalen Stilwandel, einen Umbruch, den man immer im Zusammenhang mit den gesamten kulturellen und gesellschaftlichen Umwälzungen sehen muss. Maulbertsch bleibt der Künstler, der er immer war, das zeigen seine späten und letzten Öl-Skizzen, wie die der Hl. Dreifaltigkeit in Budapest. Man spricht da gerne von „Altersmilde“. Ich mag das Wort nicht, das riecht nach Chaiselonge und das sind diese Kleinode nun überhaupt nicht. Es ist vielmehr ein persönliches Bekenntnis und die Sammlung und Verdichtung eines langen Schaffens. Und es kommt nicht schwer und müde daher, sondern filigran und leicht und hauchzart wie ein Frühlingsmorgen. Alles ist kostbar, sparsamer und die Farben von tiefer Eindringlichkeit und Klarheit.

Einige Jahre später, bei einer weiteren Reise, stehe ich in Pápa. Maulbertsch versucht den Spagat, „aktuell“ zu sein und dem Geschmack der Zeit, dem Diktat zu folgen. Aber auch der Klerus ist „aufgeklärt“ und den Neuerungen gegenüber offen und will die biblischen Bilder und theologischen Weisheiten in der „Sprache der Zeit“. Denn es soll keinem Christenmenschen mehr Angst und Bange werden beim Betrachten der Apokalypse. Er „soll beyseite lassen, waß das schräkende ist“. Maulbertsch muss sich als „unterthänigster Knecht“ den kleinlichen, aus heutiger Sicht geradezu peinlichen und engstirnigen Vorgaben des Kirchenfürsten fügen und unterordnen. Es ist fast schmerzhaft, zu sehen, wie sich der alternde Künstler bemüht, mit den „Neuerungen der Zeit“ Schritt zu halten und sich anzupassen gezwungen ist. Er muss es selbst gespürt haben, man sieht die Erschöpfung, das Ausbluten und die Erstarrung in den leblosen Schemata des Klassizismus. Das sind nur noch Auftragsarbeiten nach Maßgaben. Es gibt kein Entrinnen, Entkommen aus der Zeit. Vielleicht sind die vierundzwanzig Ältesten Ich werde nie den Schrecken vergessen, als ich am Ende meiner ersten Reise in der Klosterbibliothek von Strahov stand. Es ist alles da, das ganze Repertoire, Formen und Farben. Aber die Figuren sind wie aus Pappe, Pappmaché, wie Abziehbilder. Leblos, als ob alles Blut aus ihnen gewichen wäre. Und der Geist und die Seele gleich mit. Wie sie da alle sitzen auf künstlichen Wolken, teilnahmslos, müde und ohne Bezug zueinander und isoliert. Die Farben leuchten, aber glühen nicht mehr. Die Gesichter sind Masken. Alles ist körperlos und entseelt. Die Engel und Putten fliegen nicht mehr und sind wie mit Reißnägeln an einen Himmel geheftet, der auf eine Kalkwand gemalt ist. Und nicht mehr und nicht weniger ist. Theaterkulisse. Goethe und Winckelmann haben ganze Arbeit geleistet! Alles ist von stiller Einfachheit und erhabener Größe. Beide reisten nach Italien, in das „gelobte Land, wo die Zitronen blühn und die Goldorangen glühn...“, die Geburtsstätte des Barock. Aber sie schauen nicht nach links und nicht nach rechts und gehen mit Scheuklappen durch das Land. Kein Caravaggio und kein Tizian und kein Tiepolo und auch nicht San Clemente oder Santo Stefano Rotondo. Sie sehen nur, was sie sehen wollen in den Ruinen des Forum Romanum. Das Zeitalter der Aufklärung ist auf seinem Höhepunkt. Vernunft und Einfachheit sollten den dominierenden Einfluss der Religion und den Formenreichtum des feudalen Barock in Schranken weisen und ablösen. In seinem Hauptwerk Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 schreibt Winckelmann: „Da nun die weiße Farbe diejenige ist, welche die mehresten Lichtstrahlen zurückschicket so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist.“ Er ging davon aus, dass die Plastiken der Antike und auch die Architektur, die er als Archäologe gesehen und studiert hatte, durchweg unbemalt waren. Ein folgenschwerer Irrtum. Mengs, mit Winckelmann befreundet, malt in der Villa Albani in Rom das Parnass-Bild an die Decke in der Art eines gerahmten Tafelbildes. Streng symmetrisch angeordnet die Figuren. Statuarische Gestalten und der Verzicht auf Hell-Dunkel-Effekte. Vor allem, kein Verschmelzen der Farben. Sein Buch Gedanken über die Schönheit und den Geschmack von 1762 wurde in vielen Akademien als Lehrbuch verwendet. Die Idee vom „Einfachen und Schönen“ wird zum Ideal erhoben und wird zur Diktatur des Geschmacks und der Ästhetik. Zum Entweder – Oder. Und soll „ohne Verwirrung, ohne schreienden Kontrast“ sein und in keine „wilde Kühnheit und Überladung ausarten.“ 2 Auch die Professoren der Wiener Akademie sind literarisch „hoch“ gebildet, sozusagen auf dem neuesten Stand. Maulbertsch hat dort keine wirkliche Chance und gilt schon 1768 in akademischen Kreisen als ein Außenseiter und als veraltet, auch wenn sein Freund Schmutzer versucht, ihn „glatt zu bügeln und verständlich zu machen“. Es ist ein Sieg der Literatur, des Wortes über die Bildende Kunst. Und es ist der Beginn des Akademismus.

In Gesprächen mit Klára Garas habe ich immer wieder über das „Einbrechen des Klassizismus“ bei Maulbertsch diskutiert. Sie betrachtet den Beginn in der gerade neu renovierten Kirche in Mühlfraun/Dyje, die sie aus diesem Grunde „ nicht so sehr mag “. Es gibt wenig Beispiele in der Kunst für einen solch radikalen Stilwandel, einen Umbruch, den man immer im Zusammenhang mit den gesamten kulturellen und gesellschaftlichen Umwälzungen sehen muss. Maulbertsch bleibt der Künstler, der er immer war, das zeigen seine späten und letzten Öl-Skizzen, wie die der Hl. Dreifaltigkeit in Budapest. Man spricht da gerne von „Altersmilde“. Ich mag das Wort nicht, das riecht nach Chaiselonge und das sind diese Kleinode nun überhaupt nicht. Es ist vielmehr ein persönliches Bekenntnis und die Sammlung und Verdichtung der Apokalypse in Pápa die Rache an der permanenten und sicher auch demütigenden Gängelung. Ich kann mir das durchaus vorstellen. Maulbertsch ist kein freier Künstler wie wir heute, aber seine Korrespondenz mit den Auftraggebern zeigt, dass er schlau ist. Er weiß, was er kann. Und weiß, wer er ist. Und er ist gewitzt und hat Humor und Ironie. Und vielleicht kommt jetzt im Alter ein leichter Sarkasmus hinzu. Die Apokalypse über der Orgel wird zu einer Nachmittagsveranstaltung im Altersheim. Wie die alten Männer da ihre Kronen, die ihnen zu schwer geworden sind, durch die Gegend schmeißen. Und wie die Engel ziemlich lustlos in den himmlischen Gefilden fliegen. Sie scheinen wie aufgepumpt und fallen herunter, sobald die „Luft raus“ ist. Und der „alte Mann“, der über allem thront, ist mit der ganzen Veranstaltung nicht wirklich glücklich. Es muss alles nochmals geprobt werden! Und am Besten in Weiß, vielleicht ein bisschen Grau dazu, auch wenn die Herren Goethe und Konsorten bei der Vorstellung leider nicht anwesend sein können. Winckelmann hat Recht behalten. Das ist die Ironie des Schicksals: „Die Geschichte der Heiligen. ... man hat sie auf tausenderlei Art gewandt und ausgekünstelet, daß endlich Überdruß und Ekel den Weisen in der Kunst und den Kenner überfallen muß“. Aber der Preis ist hoch! Und die Welt ärmer! Es gibt nach Maulbertsch keine Heiligen mehr und Engel schon gar nicht mehr. Nur noch Rilke spricht im zwanzigsten Jahrhundert dann wieder von ihnen und versucht sie zurückzuholen. Aber vergeblich. Die Schwalben kommen nicht mehr und die Engel auch nicht. Und Gott ist tot. Winckelmann hat Recht. Gut. Gut. Aber schon bald kommt ein Geist, dem das alles suspekt ist und er weiß auch warum. Er ist dionysischer Natur und das Betrachten von dezentem, Ton in Ton gehaltenen, weißen Plastiken und Gestalten interessiert ihn nicht im Geringsten. Er liebt das Bacchantische und ich kann ihn mir sehr gut vorstellen als Neptun in der „Allegorie der Jahreszeiten“ im Schloss Kirchstetten. Und jetzt hat er, Nietzsche, recht: „Winckelmanns und Goethes Griechen, v. Hugo’s Orientalen, Wagners Edda – Personagen, Walter Scotts Engländer des 13. Jahrhunderts – irgendwann wird man die ganze Komödie entdecken: es war alles über die Maßen historisch falsch, aber modern, wahr“. Nur, wir können nicht zurück und nichts zurückdrehen. Fabriken kommen, die Schlösser brennen oder stehen eine Zeit lang leer und werden dann, wieder renoviert, zu Museen. Die Kirchen und die Klöster auch.

Die Eisenbahn kommt und Flugzeuge und ich fahre dieses Jahr wieder mit dem Auto und meinem Hund, der schon viel Maulbertsch im Original gesehen hat, nach Nikolsburg/Mikulov und setze mich dort an einem heißen Sommernachmittag in die Piaristenkirche und schaue mir wieder die Fresken dort an. „Johannes vor Herodes“, zu dessen Hofstaat ein Mohr mit einem weißen Pudel-Mischling gehört und wie er predigt, aber vorher noch geboren wird und seinen Namen bekommt. Vor allem aber das bittere „Ende vom Lied“ und daran ist eine Frau schuld: Salome. Da steht sie, ganz zart rosa ihre Haut und mit ihren roten Lippen und schaut erhaben und zufrieden auf das, was sie wollte. In den Armen ihrer Mutter! Den Kopf, das abgeschlagene Haupt des Täufers auf der goldenen Schüssel liegend. Leichenblass. Das träufelnde Blut – die ausgestreckte Hand des Henkers, ein muskulöser Gigant, hält noch die langen Haare einer Trophäe gleich in seiner linken, zur Faust geballten Hand – wird gleich im nächsten Moment das herrlich weiße Hochzeitsgewand mit blauer Schärpe beschmutzen, beflecken und tränken. Unterhalb von Salome der lebendige und noch zuckende Leichnam, aus dessen Halsschlagadern das noch im Körper verbliebene Blut sich schwallartig auf die lange in allen Perlmuttfarben schimmernde und changierende Schleppe der Königstochter ergießt. Zwei unschuldige Engelskinder halten die Enden des wertvollen Stoffes, der innen blau ist und kalt wie ein Wintermorgen. Der Liebesakt ist vollzogen, im Tode.

Wer das einmal gesehen hat, wird das in seinem Leben nie mehr vergessen. Hingehauchte Düsternis, in fahles Licht getaucht, der Kerker. Es bleibt wenig Platz für den Himmel und es ist, bei längerem Betrachten, als ob man selbst in diesem Gefängnis säße und gezwungen ist, Zeuge zu sein von dem entsetzlichen Geschehen und gar nicht anders kann, als hinschauen. Erzählerisch, literarisch meisterhaft und trotzdem schönste und reinste Malerei, jeder Quadratzentimeter! Jeder Millimeter. Maulbertsch bedient sich keiner der bekannten Chiffren der im 18. Jahrhundert beliebten Kerkerszenen. Es ist alles wie eine gelebte Schau, und wieder keine bloße Historie; wie nie bei ihm. Es ist eine Vision nach außen gestülpt. Es ist ein inneres Bild und es ist alles wie in einem Augenblick festgehalten und in die Zeit gebannt. Zweihundert Jahre später, Maulbertsch wäre neben Hitchcock, Akira Kurosawa oder Kim Ki-Duk einer der großen Regisseure geworden. Und lange vor Sigmund Freud hat er wie nur wenige in der Kunst den Blick in die menschliche Seele gerichtet und davor die Augen nicht zugemacht. Er zeigt uns schonungslos die Schönheit und die Abgründe menschlicher Gefühle: die Liebe und die Freude, den Hass und die Gier, die Geilheit und die Lust, die Hingabe und das Begehren, die Brutalität und die Macht, die Gewalt und den Schmerz und die Trauer und den Tod. Ein tiefenpsychologisches Gutachten der menschlichen Natur in Nikolsburg. Der Himmel ist über uns. Guantanamo ist überall.

1. Klára Garas, Franz Anton Maulbertsch 1724–1796, Budapest – Wien 1960.
2. Franz Martin Haberditzl,Franz Anton Maulbertsch, 1724–1796, Hg. Gerbert Frodl – Michael Krapf, Wien

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